Wartet nicht schießen!

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Exekution (Exécution), Markus Lüpertz, 1992. Exposition “Les désastres de la guerre, 1800-2014”, Louvre Lens. Photo: cc https://www.flickr.com/photos/la_bretagne_a_paris/ https://creativecommons.org/licenses/by-sa/2.0/
Exekution (Exécution), Markus Lüpertz, 1992. Exposition “Les désastres de la guerre, 1800-2014”, Louvre Lens. Photo: cc https://www.flickr.com/photos/la_bretagne_a_paris/ https://creativecommons.org/licenses/by-sa/2.0/

Vor vielen Jahren ging ich in Magdeburg in die Georgi-Dimitroff-Schule. Unsere Klasse war sehr undiszipliniert und der Schreck der meisten Lehrer. In der 5. Klasse bekamen wir einen neuen Klassenlehrer, Herrn Hellriegel. Er war eigentlich gar kein Lehrer, sondern Offizier der Nationalen Volksarmee. Aus gesundheitlichen Gründen brauchte er eine neue Aufgabe. Obwohl er keine pädagogische Ausbildung hatte, war er doch der einzige, der mit uns zurechtkam. Er konnte uns mit interessanten oder lustigen Geschichten fesseln. Einmal brachte er sogar ein Schwert mit in den Unterricht. Er war Kommunist, einer von der achtbaren Sorte, weil er wirklich „gläubig“ war. Später, nach vielen Jahren rief er mich an. In der Zeitung hatte er von meiner Priesterweihe gelesen und wollte mir gratulieren. Darüber freue ich mich noch heute.
Was er uns über Weltanschauung, Politik und Geschichte erzählte, halte ich größtenteils für falsch. Die Kommasetzung jedoch hat er uns sehr gut beigebracht. Noch heute weiß ich: Hauptsätze werden durch Komma getrennt, auch wenn sie durch „und“ verbunden sind. Nicht alle Schüler wollten verstehen, wozu das Erlernen solcher Regeln gut sei. So erzählte uns Herr Hellriegel, daß im Krieg ein Gefangener zum Tode verurteilt worden sei. An den General war ein Gnadengesuch gerichtet worden. Man wartete schon lange auf die Antwort des Generals. Als diese nicht mehr zu kommen schien, bereitete man alles für die Hinrichtung vor. Im letzten Augenblick kam der Bote mit der Nachricht des Generals. Auf dem Zettel stand: „Wartet nicht schießen!“ Doch was war gemeint: „Wartet, nicht schießen!“ oder „Wartet nicht, schießen!“? Es ging um Leben und Tod.
Die Geschichte hat mir damals deutlich gemacht, daß es Sinn haben kann, die Kommaregeln zu lernen, und daß eine präzise Ausdrucksweise unter Umständen von entscheidender Bedeutung sein kann. Mit Bezug auf den Verlauf der Geschichte könnte man nun fragen, mit welcher Intention der General seine Botschaft verfaßt hatte, ob er etwa nicht wußte, wie man Kommas setzt, ob er das Komma einfach vergessen hatte, ob ihm am Leben oder Sterben des Gefangenen überhaupt etwas lag oder ob er die Entscheidung eigentlich gar nicht treffen wollte und daher absichtlich offen ließ. Und wenn dieses Letztere der Fall gewesen sein sollte, könnte man fragen, warum er überhaupt den Boten geschickt hatte.
Nicht nur bei einer bevorstehenden Hinrichtung, sondern auch in anderen Situationen des Lebens kann es von entscheidender Bedeutung sein, sich eindeutig ausdrücken zu können und zu wollen. Bei Shakespeare heißt es: “’Ay’ and ‘no’ too was no good divinity.” (King Lear)  Und Paulus sagt: “Jesus Christus … ist nicht als Ja und Nein zugleich gekommen” (2 Kor 1, 19).

 

Chr. Sperling