„Ein Gedächtnis seiner Wunder hat er gestiftet“ – Predigt zu Fronleichnam 2025

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Die Bibel berichtet, daß Abraham in Beerscheba einen Brunnen baute. Im 20. Jahrhundert gruben Archelogen dort tatsächlich einen uralten, 69 m tiefen Brunnen aus. Doch in Gen 26 lesen wir: „Die Brunnen, die man zur Zeit seines Vaters Abraham gegraben hatte und die die Philister nach dem Tod Abrahams zugeschüttet hatten, ließ Isaak wieder aufgraben und gab ihnen dieselben Namen, die ihnen sein Vater gegeben hatte.“ Wie konnte Isaak die von den Feinden zugeschütteten Brunnen seines Vaters wieder aufgraben? Wie konnte er das? Er erinnerte sich, wo die Brunnen waren. Erinnerung ist wichtig!

Alte Menschen können sich an Ereignisse erinnern, die passiert sind, lange bevor die Jungen geboren wurden. Wir die mit 110 Jahren im Kardinal-Jaeger-Haus verstorbene Frau Meyer bei einem ihrer hohen Geburtstage dem Mann von der Zeitung sagte: „Mein Jungchen, ich kenne noch den Kaiser!“ Es ist schön, wenn die Alten nicht einsam vor dem Fernseher und die Jungen nicht einsam vor ihrem digitalen Endgerät sitzen, sondern wenn die Enkel und Urenkel die Alten fragen und sie auffordern: Erzähl uns von früher! Doch die Aufgabe der Alten ist es nicht nur, das zu erzählen, was sie selbst früher erlebt haben, sondern getreu zu überliefern, was sie selbst gehört haben. In Afrika etwa war eine ganze Kultur auf dieser mündlichen Überlieferung aufgebaut.

Wenn wir nicht nur an der Oberfläche leben wollen, dann müssen wir ein Fundament in den Erfahrungen der Geschichte haben, dann muß unser Leben einwurzeln in die vielen Schichten dessen, was uns vorausgegangen ist und was uns „zu Grunde“ liegt. Im Buch der Richter im AT gibt es eine beeindruckende Passage, wo es nach dem Tod des Josua heißt: „Auch seine ganze Generation wurde mit den Vätern vereint, und nach ihnen kam eine andere Generation, die den Herrn und die Taten, die er für Israel vollbracht hatte, nicht mehr kannte.“ (Kap 2) Die vergeßlichen Israeliten sind so von Gott abgefallen und mußten durch sehr schmerzliche Erfahrungen wieder zum Gedächtnis und auf den Weg zurückfinden.

Als junger Priester bin ich einmal einsam an einem Elbdamm bei Tangermünde spazierengegangen. Es kam mir eine alte Frau entgegen. Sie konnte nicht sagen, wer sie war, noch wohin sollte oder woher sie kam. Sie hatte ihr Gedächtnis verloren und irrte umher. Gleichen unsere menschlichen Gesellschaften nicht oft einem Menschen, der sein Gedächtnis verloren hat? Wenn etwa eine neue Kriegstüchtigkeit gefordert wird, haben wir dann schon wieder den aus der Not geborenen Schrei vergessen: „Nie wieder Krieg!“? Und haben viele Menschen in ihrer Not, in ihrer Einsamkeit, in ihrer Orientierungslosigkeit nicht das Gedächtnis verloren dafür, wer sie sind, woher sie kommen und wohin sie gehen? In einer Welt mit einem gigantischen digital abgespeicherten Wissen (1 Yottabyte sind etwa 1,2 Trillionen Megabytes!) leben viele ohne dieses Gedächtnis. Eine Sache sind abgespeicherte Informationen, eine andere das lebendige Gedächtnis, die Memoria. Englisch: memory. In der altnordischen Götterwelt ist Mimir der Name des Riesen, der den Brunnen der Weisheit bewacht.

Heute haben wir in der Zweiten Lesung die für uns so zentralen Worte Jesu gehört: „Tut dies zu meinem Gedächtnis“. Ein Gedächtnis ist nicht in einem Speichermedium zu Hause, sondern in einem lebendigen Herzen. Und wenn wir etwas vergessen haben, dann müssen wir versuchen, uns daran zu erinnern, d.h. es in unserem Inneren wiederzufinden. Wie wunderbar ist unsere deutsche Muttersprache! Und wenn wir uns nicht mehr er-innern können, so wie die alte Dame, die ich an der Elbe traf, dann brauchen wir andere Menschen, die uns mit unserem Namen ansprechen, die uns mit Liebe umgeben und uns liebevoll ins Gedächtnis rufen, wer wir sind, woher wir kommen, wohin wir gehören, und die uns so nach Hause geleiten. Darum gibt es die Kirche in dieser Welt!

Wenn in vielen tausend Kirchen täglich die hl. Worte Jesu gegenwärtig gesetzt werden: „Tut dies zu meinem Gedächtnis“, dann nicht, weil Gott auf unser Gedächtnis angewiesen wäre, sondern damit wir uns wieder erinnern, woher wir kommen: aus der Hand Gottes, und wozu wir berufen sind: seine Kinder zu sein, und mit welcher Tat Er seine Liebe zu uns besiegelt hat: mit dem Opfer am Kreuz, und daran, was Er uns verheißen hat: Ich bin bei euch alle Tage bis zum Ende der Welt. Sein Gedächtnis besteht nicht aus verblassenden Erinnerungen an etwas, das unwiederbringlich in der Vergangenheit verschwindet, sondern es ist reale Gegenwart und auch Gedächtnis der Zukunft: „Denn sooft ihr von diesem Brot eßt und aus dem Kelch trinkt, verkündet ihr den Tod des Herrn, bis er kommt.“ Das Größte in unserem Leben liegt nicht hinter uns, sondern vor uns, wenn Er kommt: nämlich ganz offenbar zu werden als geliebte Kinder Gottes. Wenn wir uns dieses Geheimnisses er-innern, dann leben wir wirklich aus der Hoffnung, dann hat unser Leben einen Sinn, dann haben wir die Kraft, auch dem Dunkel und dem Leid in unserer Welt zu begegnen.

Am Aschermittwoch bestreut uns die Kirche mit Asche und sagt uns: Memento homo, quia pulvis es… – Erinnere dich daran, Mensch, mach ein Memento, daß Du Staub bist und zum Staub zurückkehren wirst. Dein wahres Glück liegt nicht in diesem Staub, sondern in deiner Berufung, aufzuerstehen und ewig das zu sein, wozu Du erschaffen wurdest: Kind Gottes.

Die in ihrem inneren Wesen heilige Kirche besteht aus sehr fehlerhaften und sündigen Menschen. Ich gehöre auch dazu. Willkommen im Club! Wir erleben es jeden Tag. Doch ohne die heilige Kirche hätte die Menschheit das Gedächtnis verloren. Niemand wüßte mehr, wo die Brunnen zu finden sind. Als Christen haben wir ohne unser Verdienst die ungemein wichtige Aufgabe, Gedächtnis zu sein, nicht nur für uns selbst. Ohne lebendiges Gedächtnis auch kein Sinn, kein Lebenssinn. Gedächtnis der Lebens – Sinn des Lebens. Unser Wort „Sinn“ hängt sprachgeschichtlich mit einer uralten Wurzel zusammen: *sent- ‘eine Richtung nehmen, gehen’. Wenn unser Leben Sinn hat, dann hat es eine Richtung, ein Ziel. Dann irren wir nicht einfach ziellos umher, sondern gehen gemeinsam, weil einer uns gerufen hat, weil wir gesendet sind, eine Sendung haben. Dann sind wir nicht wie die Menschen, von denen es bei der Dichterin Gertrud von le Fort heißt: „Ihr seid wie eine Straße, die nie ankommt, ihr seid wie lauter kleine Schritte um euch selber! Ihr seid wie ein treibendes Gewässer, immer ist in eurem Munde euer eigenes Rauschen! Ihr seid heute eurer Wahrheit Wiege, und morgen seid ihr auch ihr Grab!“ Aber der heiligen Kirche legt die Dichterin dann die Worte in den Mund: „Siehe, in mir knien Völker, die lange dahin sind, und aus meiner Seele leuchten nach dem Ew’gen viele Heiden. […] Ich bin die Straße aller ihrer Straßen: auf mir ziehen Jahrtausende zu Gott!“[1]

Nach der Hl. Messe gehen wir heute auf die Straße. Nicht um eine politische Demonstration zu machen oder einen folkloristischen Traditionsumzug, sondern um diesem Geheimnis des wahren Lebens anbetend einen Ausdruck zu verleihen. Wir machen eine Prozession, d.h. wir verehren Gott, indem wir gemeinsam gehen. Froh gehen, singend, zielstrebig gehen, vertrauensvoll, weil der Eine uns gerufen hat und weil Er mit uns geht.

Und weil dieser Herr, den wir tragen dürfen als Hostie, d.h. als lebendiges Liebesopfer, das uns trägt, (weil Er) nicht nur uns etwas angeht, sondern alle Menschen entlang der Wege dieser Welt, auch die, die noch nichts von Ihm wissen oder nichts mehr von Ihm wissen wollen. Darum machen wir nachher diese Prozession.

Sein ewiges Reich ist nicht von dieser Welt, aber für diese Welt.

Davon dürfen wir freudig Zeugnis geben. Laßt uns das nicht vergessen!! Amen

[1] Hymnen an die Kirche