Guido Rodheudt „Heute noch! Über den guten Tod“

Es gehört zu den frommen Übungen der österlichen Bußzeit, sich besonderes mit dem Leiden des Herrn zu verbinden. Wir kennen den Kreuzweg, die Passionsandachten und unter ihnen auch die Andacht zu den letzten Worten Jesu am Kreuz. Wie auch bei anderen Sterbenden sind ja die letzten Worte, die jemand noch kurz vor dem Tod in dieser Welt spricht, bevor er stirbt, sehr nachhaltig und bleiben in guter Erinnerung. Nicht zufällig sind die letzten Worte des Herrn vor seinem Kreuzestod auf Golgotha in der Heiligen Schrift festgehalten.

So werden wir in Lk, 23, 42f  Zeugen eines Gespräches, in dem wir Christus sagen hören: „Heute noch wirst Du mit mir im Paradies sein!“ Er sagt dies keineswegs zu einem frommen Schriftgelehrten, um ihm seinen Lohn für ein gottgefälliges Leben zu verheißen. Nein, er sagt es zu einem Verbrecher, der neben ihm – ebenfalls an einem Kreuz – auf den Tod wartet. Er soll mit Ihm über die Schwelle des Todes gehen. Er soll in wenigen Augenblicken die Welt des Sichtbaren verlassen  und die unsichtbare Welt Gottes betreten.

Der Herr verheißt, dass Er diesen Verbrecher mitnehmen wird. Und zwar aus einem einzigen Grund: weil der Schächer sich bekehrt hat, weil er im letzten Augenblick und vor dem letzten Atemzug seine Schuld eingesehen, bekannt und bereut hat und weil er mit Glauben und Vertrauen in dem, der neben ihm hängt, den Messias, den Gerechten, den Sohn Gottes erblickt hat. Deswegen darf er mitgehen, deswegen wird der Schritt aus dem Leben hinaus ein Schritt in das Leben hinein. In ein Leben ohne Verbrecher und Sünder, in ein Leben ohne Zeit und ohne Makel, ohne Zeit und ohne Tod.

Die Diskussion im Todeskampf bringt ihm das zu Bewusstsein. Er, der alles verloren hat – das Gutsein, die Vergangenheit und die Zukunft – dessen Strafe in der unumkehrbaren Vernichtung des Kreuzestodes liegt, sieht im letzten Augenblick ein Licht – direkt neben sich, in dem, der dort zu Unrecht hängt, der nichts Böses getan hat, der freiwillig das Kreuz erduldet, und der dennoch die Macht hat, zu vergeben. Diese Leistung des Verbrechers, dass er glauben und vertrauen kann, selbst in der abgründigsten Stunde, dass er ehrlich sein kann und darüber hinaus bereuen und bekennen kann, all dies öffnet ihm das Tor zum Paradies. Der Messias selbst erteilt ihm die Absolution in der Stunde Seines eigenen Todes.

So soll es auch künftig bleiben. Menschen, die vor dem Tod bereuen und Christus – vertreten durch den Priester – ihre Sünden beichten, erhalten die Lossprechung von ihrer Schuld und können ohne Sündenlast über die Schwelle des Zeitlichen gehen. Das Sakrament der Beichte und Absolution wird im Streben zum Sakrament des Ewigen Lebens. Christus hat uns diese Verheißung bei einem Seiner letzten Worte am Kreuz geschenkt.

Die Kirche führt diese Verheißung fort, indem Christus in den Sterbesakramenten der Lossprechung, des Ablasses in der Sterbestunde, der Heiligen Salbung und der eucharistischen Wegzehrung der Heiligen Kommunion allen den Himmel öffnet, die danach verlangen. Wer diese Chancen nicht nutzt, obwohl sie sich ihm bietet, muss mit allem Sündenballast über die Schwelle des Todes ins Gericht gehen.

Wenn ein Mensch dem Messias nicht vertraut, wenn er ihn kennt und ihn nicht um Verzeihung bittet, wenn er die Gnade der Absolution ausschlägt und sich auf eigene Faust daran macht zu sterben, wird es keine Gerechtigkeit für ihn geben können und kein Ewiges Leben. Wer den Messias bewusst in der Stunde des Todes ignoriert, richtet sich selbst zum Verlust der Ewigkeit mit Ihm. Eine herbe und leider oft verschwiegene Wahrheit in Zeiten des ungebrochenen Heilsoptimismus.

 

Die Szene am Kreuz hat mich als Priester immer wieder beeindruckt. Und sie hat sich oft bewahrheitet, wenn ich den Dienst der Vergebung an einem Sterbenden tun durfte. Das Reich Gottes ist einerseits nicht der Himmel der Frommen und Sündenlosen, sondern der reuigen und erlösten Sünder. Aber andererseits sind die Sünder dort nur dann willkommen, wenn sie nicht – wie der andere Verbrecher neben dem gekreuzigten Christus – vor lauter Eigensinn und Blindheit für die Gegenwart Gottes dem Wirken des Messias Misstrauen. In dieser Haltung des Do-it-your-self-Sterbens kann Christus nicht heilen, nicht vergeben, nicht erlösen und nicht seligmachen. Darin liegt für einen Priester eine hohe Verantwortung, wenn es darum geht, um das Heil eines Menschen zu ringen und ihm die Tür zu zeigen, durch die er gehen kann, wenn er nur will.

Aber gerade hier liegt zugleich ein derber Verlust in unseren reformatorischen Tagen. Denn der Glaube an die Wirkmacht der Sakramente ist geschwunden. Die Unkenntnis darüber, was eine Absolution im Augenblick des Todes bewirken kann raubt eine Chance, einem Menschen in den Himmel zu helfen! Folge der Unkenntnis, des Defizits in Katechese und Predigt, ist der Unglaube, der selbst jene, die sich zu den überzeugt Katholischen rechnen, davon abhält, die Sterbesakramente zu empfangen. Der gesamte Bereich der Sakramente der Buße und der Heiligen Salbung sind seit Jahren keine Bestandteile des Repertoires der Prediger. Das Wort Christi am Kreuz ruft in Erinnerung zu rufen, welche unverzichtbaren Wege die Kirche zu den Menschen zu gehen hat, um ihnen die Gnade des reuigen Schächers zu ermöglichen. In der Todesgefahr sind die eigentlichen Sterbesakramente die Lossprechung von den Sünden, der Ablass in der Sterbestunde und – wenn körperlich noch möglich – die Heilige Kommunion als Wegzehrung. Der Priester kann also dem Kranken, der noch bei klarem Bewusstsein ist und den Empfang der Sakramente noch mitvollziehen kann, den Erlöserdienst Christi selbst spenden, wenn er sich dafür geöffnet hat.

Deswegen ist im Umkehrschluss die Unruhe berechtigt, wenn ein Mensch, der auf den Tod zugeht,  nicht die Chance der Umkehr und Zurüstung für die Ewigkeit erhält – eine Unruhe, die allerdings aus falscher Menschenfreundlichkeit in der Seelsorge nur ungern vermittelt wird.

Ein „guter Tod“, wie man so schön sagt, ist für einen Katholiken eben nicht der plötzliche schmerzfreie Sekundentod oder das unbehelligte „ruhige Einschlafen“ – so sehr man sich auch wünschen mag, dass das Sterben nicht qualvoll ist. Ein „guter Tod“ ist aus gläubiger Sicht das Sterben, das so geschieht, wie wir es in der Kreuzigungsszene auf Golgotha erleben: an der Hand des Messias, nach dem Bekenntnis und der Vergebung der Sünden über die Schwelle des Todes zu gehen und auf diese Weise noch eine Chance zu haben, vor dem Sterben dem Herrn seine Reue zu zeigen – und wenn es nur durch eine stumme Geste oder ein wortloses Kopfnicken auf die Fragen des Priesters am Sterbebett ist.

 

Jedesmal wenn ich als Priester – auch gegen anfängliche Vorbehalte – die Sterbesakramente rechtzeitig und bei Bewusstsein des Sterbenden spenden konnte, durfte ich am Ende sowohl bei den Sterbenden selbst als auch bei den Angehörigen in – trotz aller Trauer über das nahe Ende – in glücklich Gesichter schauen! Das Zeugnis des reuigen Verbrechers von Golgotha hat mir unter die Haut fahren lassen, welche Gnade es ist, ein Priester sein zu dürfen, der den Menschen die Tür zum Himmel öffnen kann, wenn sie daran klopfen und bitten: „Herr, denk an mich, wenn Du in Dein Reich kommst!“

„Mit freundlicher Genehmigung des Autors. Zuerst erschienen im Vatican Magazin 4/2022“