Weltgebetsoktav EIN WINK FÜR DIE ÖKUMENE von Hans Urs von Balthasar

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Hans Urs von Balthasar,

„Du krönst das Jahr mit deiner Huld“. Radiopredigten, S. 42-46 (1982)

© Johannes Verlag Einsiedeln, Freiburg

 

 

Weltgebetsoktav

EIN WINK FÜR DIE ÖKUMENE

 

Im heutigen Sonntagsevangelium begegnen wir dem Wort des Täufers über Jesus, der auf ihn zukommt: “Siehe, das Lamm Gottes, das die Sünde der Welt hinwegnimmt!“ (Joh 1, 29.) Eine ungeheuerliche Aussage, die den letzten Sinn der Weltsendung Jesu vorweg enthüllt und auf das schreckliche und doch so gnadenvolle Ende seines irdischen Weges vorausweist. Wir brauchen uns hier nicht bei der Frage aufzuhalten, ob dieses Wort damals wirklich gesprochen werden konnte oder ob der Heilige Geist es später dem Evangelisten als den rechten Ausdruck für die Situation eingegeben hat. Warum hätte der gewaltige Vorläufer Jesu, den dieser als den Größten der vom Weib Geborenen bezeichnet hat, nicht einen Blick tun dürfen in das wahre Wesen dessen, den er ankündigte? Wir nehmen das Wort, wie es dasteht, in seiner unteilbaren erschreckenden Größe.

Es weist direkt auf die Mitte des Auftrags Jesu, es trifft ins Schwarze. Dieser Auftrag ist mit keinem andern in der Weltgeschichte vergleichbar. Weise konnten versuchen, einen Weg zu zeigen, auf dem man sich vor der Verstrickung in die Sünde der Welt rein halten oder von ihr läutern kann, aber welcher Weise wollte sich vermessen, die ganze Schuld der Welt auf seinen Schultern wegzutragen? Propheten des Alten Bundes mochten darüber hinaus von der Barmherzigkeit Jahwes reden, der das Volk von seinen Sünden reinigen, sie mit seiner göttlichen Allmacht vergeben kann. Und ganz am Rand und von niemandem wirklich verstanden, konnte das Rätselbild eines Namenlosen auftreten, der unerkannterweise für die Sünden des Volkes, ja der Menschheit büßt und zur Schlachtbank geführt wird “wie ein Lamm, das seinen Mund nicht auftut“.

Hier wird vorausgeblickt auf das tiefste christliche Geheimnis: Gott kann im Menschen die Ordnung nicht wiederherstellen, ohne daß der Mensch, mit dem Gott im Bund lebt, mit dabei ist; aber wenn der sündige Mensch von sich allein aus nichts zur Versöhnung beitragen kann, so vermag doch ein ganz reiner Mensch, der von Gott kommt und die Gegenwart Gottes unter den Menschen verkörpert, für seine Brüder zu büßen, ihre Sünden von ihnen wegzuheben, so daß sie, dieser Last ledig, die Möglichkeit haben, sich Gott zuzukehren und sein Versöhnungsangebot anzunehmen.

Das ist die innerste Mitte der christlichen Guten Botschaft. Das allerälteste Glaubensbekenntnis, das uns im Neuen Testament überliefert wird, ist ein Wort des heiligen Paulus, von dem er sagt, er verkünde damit, was ihm selbst in Jerusalem oder Antiochien von den Uraposteln als die Quintessenz des Glaubens übergeben wurde. Dieses Bekenntnis lautet: “Christus ist für unsere Sünden gestorben, wie die Schriften gesagt haben, und er wurde begraben, am dritten Tag ist er auferstanden, wie die Schriften gesagt haben, und dem Kephas erschienen, hernach den Zwölfen.“ Der Skandal des Kreuzes, für seine Jünger etwas Unfaßbares, Unerträgliches, erhält von der Auferstehung her seine Deutung: Jesus, der als Lebendiger immer für alle gelebt hat, ist offenbar nicht sinnlos, sondern höchst sinnvoll für alle gestorben und hat ihre Sünde hinweggetragen. Das ist nicht eine Deutung unter andern — wie manche Theologen uns heute glauben machen möchten —‚ sondern die einzig zentrale und befriedigende, auf die hin alle übrigen Gedanken über Jesu Passion konvergieren; die einzige, die alsbald zur normativen Lehre der Urkirche wurde: Paulus, der drei, vier Jahre nach Jesu Tod sich bekehrte, fand sie schon vor und gab ihr den Ehrenplatz im Zentrum seiner gewaltigen Theologie. Und niemand hat das Recht, dahinter zurückzugehen und sie zu relativieren.

Brüder und Schwestern. Wir stehen in der Gebetsoktav für die Einigung der christlichen Kirchen. Es ziemt sich deshalb, anläßlich des eben Gesagten auch unserer mißlichen kirchlichen Situation zu gedenken. Dies wird angesichts des biblischen Befundes wohl in etwas anderer Weise geschehen müssen, als die meisten Zuhörer erwarten. Gewiß sind die Fragen, in denen wir uns nicht einig sind, wir Christen, katholische, protestantische, anglikanische, orthodoxe, nicht unwichtig, und der Dissens hat seine Wurzeln in bestimmten Aussagen der Heiligen Schrift selber: Sollte Petrus zum Beispiel durch alle Zeiten hindurch einen Nachfolger haben, und wenn ja, welches wären dann seine Befugnisse? Oder: wie soll die Mitwirkung des Menschen mit Gottes Gnade verstanden werden, was heißt es, wenn Paulus alles der Gnade zuschreibt, sich und seine Mitarbeiter aber trotzdem als Mitwirker Gottes (synergoi) bezeichnet? Oder: wenn Jesus uns Brot und Wein als sein Fleisch und Blut darreicht, wie ist das des näheren zu verstehen? Diese und ähnliche Fragen, die alle in der Schrift ihren Ansatzpunkt haben, sind bis heute Anlaß unserer Meinungsverschiedenheiten, deren praktische Auswirkungen man aufs tiefste bedauern muß. Doch nicht davon möchte ich jetzt handeln, sondern von unserem gemeinsamen Verhältnis zu dem Satz des Täufers: “Das ist das Lamm Gottes, das die Sünde der Welt hinwegträgt“, dem Satz, der nach allen neutestamentlichen Schriften, von Paulus und den übrigen Briefen zu den Synoptikern und den johanneischen Schriften, einhellig als die Grundlage des Glaubens anerkannt wird, wie auch das alte Glaubensbekenntnis bezeugt, wenn es sagt: “Für uns Menschen und um unseres Heiles willen ist er vom Himmel herabgekommen, für uns wurde er gekreuzigt.“ An diesem Satz hängt wirklich alles: nämlich die Tatsache, daß Jesus Gottes ewiger Sohn ist (denn ein bloßer Mensch kann unmöglich die Sünde der Welt hinwegtragen); die Tatsache, daß Gott die ewige Liebe ist (denn der Beweis dafür liegt in der Hingabe des Sohnes durch den Vater aus Liebe zur Welt); die Tatsache, daß Gott sich durch die Auferweckung des Gekreuzigten und Begrabenen und somit durch die Verheißung unserer eigenen Auferstehung als die Hoffnung für die dunkle und schreckliche Welt erweist. Wer an dieser zentralen Aussage rüttelt, für den drohen alle christlichen Hauptwahrheiten ins Wanken zu geraten, er behält vom Ganzen nur ein tristes Restprodukt übrig.

Nun zeigt sich aber, daß in allen Kirchen eine starke Partei besteht, die sich bemüht, den erwähnten Satz zu relativieren, ja so zu schwächen, daß von ihm nichts Greifbares mehr übrigbleibt. Lassen wir die Orthodoxen beiseite, so wetteifern heute katholische mit protestantischen und auch anglikanischen Theologen (und durch sie angeregt auch die Prediger), das “Für uns“ des Lebens, Leidens und Auferstehens Jesu an den Rand zu drängen, vor allem dadurch, daß man exegetisch frühere Schichten in den Evangelien aufdecken zu können meint, worin dieser Satz noch unbekannt war. Die liberal-rationalistische Zersetzung des Glaubens auf allen Seiten, seine Reduktion auf einen eher platten religiösen Humanismus scheinen mir die größte Gefahr für die ökumenische Bewegung zu sein, denn auf diesem Niveau einander zu begegnen und sich zu einigen, dürfte für das Christentum von keinerlei Tragweite sein.

Welches sind die Argumente, die liberale Theologie überall gegen das “Gestorben für unsere Sünden“ anführt? Vor allem das durch exegetische Forschung angeblich erhärtete Faktum, daß Jesus während seines Erdenlebens vermutlich nicht oder kaum über sein kommendes Leiden gesprochen, oder wenn er es tat, diesem Leiden keinen Sühnewert für die Sünden Israels, geschweige denn für die der ganzen Welt, zugemessen hat. Es scheint, als ob er seinen Kreuzestod überhaupt nicht oder nur spät voraussah. Erst die nachösterliche Kirche hätte, um das Ärgernis des Kreuzes wegzuerklären, diesen Gedanken allmählich in den Glauben an Jesus hineingetragen.

Wir können natürlich hier den sehr komplizierten Beweisverfahren für diese Meinung nicht nachgehen, sondern müssen uns mit ein paar summarischen Gedanken begnügen. An erster Stelle darf gesagt werden, daß es für Jesus, der ganz damit beschäftigt war, Israel zu bekehren, eine Taktlosigkeit gewesen wäre, dem Volk vorweg anzukündigen, es werde sich nicht bekehren, ihn vielmehr verwerfen und kreuzigen. Die Chance der Bekehrung mußte dem Volke gelassen werden. Dies hindert aber nicht, daß Jesus trotzdem um diese Verwerfung wußte. Allen großen Propheten vor ihm wurde gleich bei ihrer Erwählung und Sendung zur Bekehrungspredigt angekündigt, sie würden in ihrem Auftrag scheitern, was nicht hinderte, daß sie sich mit aller Kraft an die Arbeit machten. Ferner kann nicht wirklich bewiesen werden, daß Jesu Worte an seine Jünger über sein kommendes Leiden nicht wenigstens in ihrer Grundsubstanz von ihm stammen, auch dann nicht, wenn er dieses Leiden (wie in Mk 10, 45) ausdrücklich als ein Sühneleiden bezeichnet. Und die Einsetzungsworte beim Abendmahl: “Das Fleisch, das für euch hingegeben, das Blut, das für euch vergossen wird“, sagen dasselbe mit Nachdruck. Wer wollte denn nach Ostern dem Herrn solche Worte in den Mund gelegt haben! So bleibt nur übrig, daß Jesus während seines irdischen Wirkens, sicher sehr diskret, über seine Zukunft gesprochen hat; die Verwaltung der großen schrecklichen Stunde aber überließ er ganz dem Vater.

Die wiederholten Aussagen der Evangelisten, daß sie vor der Auferstehung die Ankündigungen Jesu über seinen Tod und seine Auferstehung nicht verstanden, dürfen ebensowenig als bloße Erfindungen abgetan werden. Sie klingen vollkommen aufrichtig, wir müssen sogar sagen: die Jünger konnten das endgültige Wort Gottes, das Jesus Christus war, gar nicht in seiner Ganzheit verstehen, bevor es als ganzes zu Ende gesprochen war. Die letzten Silben aber waren die wichtigsten: Jesu Sterben und Auferstehen. Erst wo das ganze Wort erklungen war, wurde auch das volle Verständnis möglich.

All dies hat für die Ökumene weitreichende Bedeutung. Wirkliche Einigung der Konfessionen kann nur vom Kern des Glaubens aus erfolgen. Ist dieser Kern beiderseits unverbrüchlich gesichert, dann können sich die von ihm abhängigen Schichten, das Fruchtfleisch sozusagen, um ihn herum anlagern, und es kann Einigung auch in diesen Schichten angestrebt werden. Der umgekehrte Weg: Einigung in relativ sekundären Fragen unter Ausklammerung der primären Frage, ist völlig ungangbar. Verwaschenes mit Verwaschenem zu verbinden ergibt niemals etwas ursprünglich Starkes und Leuchtendes, was das Christentum doch sein muß. Der christliche Glaube steht und fällt mit dem Bekenntnis, daß mitten in der Weltgeschichte Gott ein “Sühnmal“ (wie Paulus sagt) aufgerichtet hat, das wirksam erweist: Gott ist nicht, wie in Israel, immer wieder doppelgesichtig: richtend und rettend, drohend und verzeihend. Gott ist eindeutig der Gott und Vater aller; er gewährt all denen Verzeihung, die sie annehmen und durch ihr eigenes Verzeihen diese Annahme unter Beweis stellen. Was die Bergpredigt vom Christen verlangt, setzt das Kreuz voraus: Jesus wird uns zeigen, wie man “die andere Wange hinhält“, wie man “seine Feinde liebt“: Wie könnte er es sonst von uns verlangen?

Christentum ist die Religion des Sich-Verdankens. Dank sagen nicht nur dafür, daß man ist, geschaffen wurde, sondern Dank sagen, daß man ohne sein Verdienst mit Gott versöhnt wurde; dieses Geschenk der Versöhnung dankbar annehmen und es durch sein Leben andern verständlich zu machen suchen. Tun wir das, so haben wir in der Ökumene den wichtigsten Schritt zusammen getan. Alle Fragen, die uns noch trennen, werden im Licht dieser Selbstverdankung zu betrachten und zu lösen sein. Wir bitten Gott zum Schluß:

Herr, laß uns nie vergessen, daß wir Dir, dem dreieinigen Gott, der das Werk der Welterlösung in Christus vollbracht hat, alles verdanken, und daß wir Dich alle gemeinsam dafür preisen, aber auch bitten möchten, daß Du uns die volle Einheit des Bekenntnisses schenkst, durch Christus, unsern Herrn.