Predigt zum 20 jährigen Jubiläum der Friedensgebete Pfarrer Sperling

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Friedensgebet 30.10.2009 St. Marien Oschersleben

Verehrte Damen und Herren, Brüder und Schwestern!

Viele von Ihnen waren am Montag, dem 30. Oktober 1989, hier in St. Marien zum Friedensgebet versammelt. Dank der Umsicht von Pfr. Krause haben wir die Original-Tonaufnahmen von damals. Wenn man sie hört, wird noch einmal die ganz besondere Stimmung wach.
Das, was damals auch hier geschah, muß im Kontext größerer geschichtlicher Zusammenhänge gesehen werden. Es gab nämlich wichtige Vorkämpfer und Wegbegleiter auch im osteuropäischen Ausland. Wir können darauf heute nicht näher eingehen, aber ein paar Namen seien wenigstens genannt: Karol Woytila, der den Menschen nach seiner Wahl zum Papst zurief: „Habt keine Angst!“ und schon 1979 bei seinem Besuch im Kommunistischen Polen Millionen von Menschen zusammenrief (was damals ein unerhörtes Ereignis, eine Art Initialzündung war), die streikenden Arbeiter der Danziger Leninwerft 1980 mit ihrem Anführer Lech Walesa und den anderen Gründern der ersten freien Gewerkschaft im sowjetischen Machtbereich, Vaclav Havel, der tschechische Theaterschriftsteller und Philosoph, der für seinen Einsatz für Menschenrechte jahrelang im Gefängnis saß (Stichwort Charta 77). Michail Gorbatschow, der als Wegbereiter von Glasnost und Perestroika wieder eine ganz eigene Rolle spielte. Ich denke auch an die mutigen Aktivisten der Umweltbibliothek an der Ostberliner Zionskirche oder etwa an Bärbel Boley. Viele andere wären zu nennen.

Am 30.10.89 war ich als Student bei meinen Eltern in Magdeburg zu Besuch. Am Morgen dieses Tages besuchte ich mit einer Freundin eine Marxismus-Vorlesung in der Medizinischen Akademie. Ich wollte wissen, was da verkündet wurde. Das Thema der Vorlesung war der Determinismus. Determinismus heißt, dass alles sich gesetzmäßig entwickelt und alles auch gesellschaftlich so kommen muß, wie es kommt, dass eben alles determiniert ist. Das Weltbild des Determinismus ist auch in der Naturwissenschaft längst überholt. Aus der Physik wissen wir seit Heisenberg, dass es sogar im Bereich der Naturwissenschaft prinzipiell unvorhersagbare Ereignisse gibt. Und erst recht ist die gesellschaftliche Entwicklung, anders als der Marxismus sagt, nicht durch Gesetze einfach vorherbestimmt. Geschichte ist nicht determiniert. Geschichte ist ein Drama. Geschichte hat mit freien Entscheidungen von Menschen zu tun. Daran sollten wir uns heute auch einmal wieder erinnern.

Liebe Brüder und Schwestern, sehr verehrte Damen und Herren, wer vor 20 Jahren bewusst dabei war, hat Geschichte erlebt. Geschichte als Drama. Erst heute wird uns durch manche Berichte bewusst, wie gefährlich unsere Situation damals war, wie groß die Versuchung der Mächtigen war, Gewalt anzuwenden. Daß dies nicht geschehen ist, dafür können wir nicht dankbar genug sein. Sicher liegt dies zu einem guten Teil auch darin begründet, dass Unzufriedene, auch wenn sie keine Christen waren, sich um die Friedensgebete in Kirchen, vor allem in evangelischen, sammeln konnten. Montagsgebete und Montagsdemonstrationen gehören zusammen. Eine kleine Schar von Menschen hatte vorher jahrelang an diesen Gebeten festgehalten. Ich war als Jugendlicher manchmal im Magdeburger Dom in einer kleinen Kapelle dabei. Es waren weniger als zehn Personen. 1989 trafen sich nun plötzlich zehntausende. In Magdeburg platze der Dom an diesem 30.10. aus allen Nähten, bevor sich bei sehr schlechtem Wetter ein schweigender, aber sehr machtvoll wirkender Demonstrationszug bildete. In Leipzig waren zur gleichen Zeit über 300 000 auf der Strasse. Die Leute hatten keine Angst mehr. Am nächsten Tag trat Margot Honecker als Volksbildungsministerin zurück. Auch hier in Oschersleben war unsere Marienkirche übervoll. Mein inzwischen verstorbener Vorgänger Pfr. Krause und Superintendent Henning leiteten umsichtig das Gebet. Sup. Henning hat ja diese Woche in einem langen Leserbrief die damalige Situation gut beschrieben. Jeder durfte frei seine Meinung äußern, aber es wurde Wert darauf gelegt, die Menschenwürde zu achten, auch die der Gegner. Es ist bemerkenswert, dass die kleine Schar menschlich ohnmächtiger Friedensbeter, die anschließend auch wieder sehr klein, vielleicht noch kleiner wurde, in diesem historischen Moment der Kristallisationspunkt der protestierenden Menge wurde und so wesentlich zur Gewaltlosigkeit beigetragen hat. Die Menschenrechte, die wir einforderten, billigten wir auch unseren Bedrohern zu. Eine Frau aus unserer Pfarrei schenkte dem Wachposten vor der Stasi eine brennende Kerze. Sie zeigte ihm dadurch: Du hast zwar eine Waffe, und ich fühle mich durch Dich bedroht, aber Du bist trotzdem ein Mensch für mich. Und er nahm die Kerze an. Als später Erich Honecker zeitweise obdachlos wurde, wurde er von einem evangelischen Pfarrer aufgenommen. Zeichen der Menschlichkeit!

An den Wortäußerungen von damals wird deutlich, wie wir alle spürten, dass wir Geschichte erlebten und gestalteten. Daß wir nicht determiniert waren, sondern selbst den Lauf der Geschichte beeinflussen konnten. Bei den Demonstrationen überkam uns ein Gänsehautgefühl. Wir sind klein und ohnmächtig. Viele einzelne zusammen bilden aber eine große Macht und können Geschichte gestalten. Dies gilt auch heute, obwohl viele Erfahrungen das Gegenteil zu beweisen scheinen. Auch heute kommt es auf die Einzelnen an. Auch heute sind kreative Minderheiten gefragt. So schrieb ja auch Sup. Henning: „Wir brauchen weiterhin den Mut zum Aufbruch…“

Wenn wir jetzt die Beiträge von damals wieder hören oder lesen, erkennen wir, dass es unter uns auch viele Illusionen gab, z.B. was die Weiterexistenz der DDR oder die Lebensfähigkeit eines sozialistischen Wirtschaftssystems betraf.
In der folgenden Zeit konnte man dann auch das Gefühl haben, von der Geschichte überrollt zu werden. Es ging alles so schnell. Ich habe meiner Großmutter erst nicht geglaubt. Aber sie hatte Recht, als sie eine große Arbeitslosigkeit voraussagte. Als ich nach der Grenzöffnung in Westberlin ankam, führte einer meiner ersten Wege in eine Buchhandlung. Enttäuscht musste ich feststellen, wie viel geistiger Schrott dort neben Wertvollem angeboten wurde. Freiheit ist eben nicht alles. Freiheit ist ein offener Rahmen, eine Chance. Freiheit muß erfüllt werden, muß positiv gestaltet werden. Freiheit kann missbraucht werden. Freiheit kann auch eine verlorene Chance, ein vertanes Geschenk sein. Diese Gefahr besteht heute!

Schon am 20.10.89 hörte ich bei einer Vollversammlung des Neuen Forums in Erfurt, wie durch einen Bürger vor dem „Wolf im Schafspelz“ gewarnt wurde. Zu recht! Einer der Wortführer derselben Versammlung wurde später enttarnt. Viele Wölfe aber tragen heute immer noch ihr Schafsfell oder haben es gegen modernere Schafspelze eingetauscht. Und viele neue Wölfe sind nachgekommen, Wölfe mit östlichen und Wölfe mit westlichen Wurzeln.

Meine Damen und Herren, liebe Brüder und Schwestern! Wir können wirklich froh und dankbar sein für die Freiheit und die Möglichkeiten, die die Demokratie und der Wohlstand bieten. Viele, die sich heute in die DDR zurücksehnen, haben ein schlechtes Gedächtnis. Unrecht, Unterdrückung, Unfreiheit, Gleichschaltung, Umweltzerstörung, Misswirtschaft und Menschenverachtung. Es ist schwer zu glauben, dass Leute das alles wirklich zurück haben wollen. Die Aussage „Es war nicht alles schlecht“ führt den Jungen gegenüber zu gefährlichen Irrtümern. Dadurch, dass heute auch vieles schlecht ist, wird doch das frühere Unrechtsystem nicht im Geringsten besser! Sicher, es war wirklich nicht alles schlecht, aber das lag nicht am System, sondern an den Menschen selbst, an unseren Familien, unseren Nachbarn und Kollegen!
Als ich 1988 ein Praktikum in einem Magdeburger Großbetrieb machte, hörte ich bei einer Dienstbesprechung, wie sehr wir wirtschaftlich am Ende waren: „Selbst die Russen können wir nicht mehr bescheißen“, war die wörtliche Aussage des Abteilungsleiters. Ich finde es wirklich skandalös, wenn noch heute, wie mir Schüler erzählen, manche Lehrer im Unterricht ein verklärtes Bild der DDR vermitteln.

Brüder und Schwestern, verehrte Damen und Herren! Unsere Versammlung sollte nicht nur Gedächtnischarakter haben, sondern die Gegenwart mit einbeziehen.
Das Wort des Propheten Jesaja, das wir vorhin gehört haben, zeigt die zentrale Rolle der Gerechtigkeit: „Das Werk der Gerechtigkeit wird der Friede sein, der Ertrag der Gerechtigkeit sind Ruhe und Sicherheit für immer.“
Gerechtigkeit heißt nun aber nicht, dass alle über einen Kamm geschert werden, sondern dass die Natur des Menschen, dass die menschliche Würde von Kindern, Frauen und Männern geachtet und verteidigt wird. Dafür muß gekämpft werden. Diese Gerechtigkeit wird auch heute oft mit Füßen getreten. Weder der marxistische noch der kapitalistische noch der demokratistische Materialismus schaffen echte Gerechtigkeit. Alle drei verkürzen nämlich den Menschen, sehen letztlich in ihm nur eine Nummer, eine Arbeitskraft, einen Wähler, einen Klassenangehörigen, einen Verbraucher, einen Konsumenten; alle drei vergessen, dass er Abbild Gottes und darum um seiner selbst willen wertvoll ist von der Zeugung bis zum Tod.
Wir haben uns 1989 die Freiheit erkämpft. Aber wir haben auch zugelassen, dass diese Freiheit ausgehöhlt wurde, dass neues Unrecht sich breitmachte.
Auch heute sind darum die Mutigen gefragt, tapfere, wahrheitsliebende Minderheiten, die die Menge aufwecken und wachrütteln.

Es ist wohl nicht mehr so gefährlich wie damals, gegen negative Tendenzen aufzustehen. Aber schwieriger ist es geworden. Die Situation ist unübersichtlicher, komplexer. Dass etwas nicht stimmt mit unserer Gesellschaft, ist uns selbst und den Menschen auf der Strasse am Gesicht abzulesen. Das Erschreckende ist dabei nicht nur die abgründige Traurigkeit und Enttäuschung, sondern vielmehr noch eine von den Menschen oft selbst nicht mehr wahrgenommene geistige Leere. Die Unzufriedenheit ist zwar da. Doch viele sind irgendwie ruhig gestellt, als ob sie unter Drogen stünden.
Welche Rolle spielen hier die Mainstreammedien? Informieren sie oder lenken sie nicht viel mehr vom Eigentlichen ab? Kultivieren sie oder ziehen sie das Niveau nach unten? Botho Strauß schreibt treffend: „Eher würde diese Republik mit einem Wimmern enden als mit einem großen Knall“. Er spricht vom „Regime der telekratischen Öffentlichkeit“, und er nennt es die „unblutigste Gewaltherrschaft“ und zugleich den „umfassendsten Totalitarismus der Geschichte“. „Es braucht keine Köpfe rollen zu lassen, es macht sie überflüssig. Es kennt keine Untertanen und keine Feinde. Es kennt nur Mitwirkende, Systemkonforme. Folglich merkt niemand mehr, dass die Macht des Einverständnisses ihn missbraucht, ausbeutet, bis zur Menschenunkenntlichkeit verstümmelt.“*

Wachsamkeit und Widerstand sind also auch heute gefragt. Es ist ganz anders als damals und doch ähnlich. Auch heute braucht die Welt eine Wende, eine Kehre, eine Umkehr.

Danke fürs Zuhören. Amen.

„Eher würde diese Republik mit einem Wimmern enden als mit einem großen Knall, der Resurrektion des Führers. Es wird vermutlich so sein, dass die niedergehende Gesellschaft – ohne ihr System aufzugeben – in die Hände einer systemkonform arbeitenden Schattengesellschaft fällt. Das hinter den schwachen Drahtziehern stärkere Drahtzieher auftauchen und sie in ihre Züge nehmen. […] Das Regime der telekratischen Öffentlichkeit ist die unblutigste Gewaltherrschaft und zugleich der umfassendste Totalitarismus der Geschichte. Es braucht keine Köpfe rollen zu lassen, es macht sie überflüssig. Es kennt keine Untertanen und keine Feinde. Es kennt nur Mitwirkende, Systemkonfome. Folglich merkt niemand mehr, dass die Macht des Einverständnisses ihn missbraucht, ausbeutet, bis zur Menschenunkenntlichkeit verstümmelt.“
Der Aufstand gegen die sekundäre Welt, München 2004, S. 68f