Predigt am Sonntag, 26. Januar 2025
zur Lesung Nehemia 8,2-4a.5-6.8-10
In der Kürze der Zeit beschränke ich mich auf die erste Lesung aus dem Buch Nehemia. „Alle Leute weinten nämlich, als sie die Worte des Gesetzes hörten.“ Darum soll es in dieser Predigt gehen. Weinen zeigt eine innere große Ergriffenheit etwa durch Leid oder durch Mitleid. In der geistlichen Tradition ist die Rede von der „Gabe der Tränen“. Weinen zu können, ist ein Geschenk und nach Thomas von Aquin auch ein Linderungsmittel gegen Traurigkeit (ST.I-II.q38.a2). Wann habe ich das letzte Mal geweint? Als Kind habe ich sicher öfter geweint, etwa wenn ich mir wehgetan hatte. Aber später eigentlich nur sehr selten und dann eher vor Freude oder Ergriffenheit, nicht aus Trauer. — Sehr bewegend kann die rare Erfahrung sein, sich von einem anderen verstanden zu wissen. Wir oft wird man mißverstanden und verkannt! Einmal wirklich von einem anderen verstanden zu werden, ist etwas Wunderbares. Ebenso die Erfahrung echter Schönheit. Herrliche Musik kann Tränen hervorrufen. Auch Versöhnung und Vergebung und vor allem die Erfahrung, absichtslos geliebt zu werden. All das zeigt uns, daß das Leben gut ist. Ich bin geliebt, mein Leben hat einen Sinn. Trotz allem: Das Gute ist nicht nur möglich, sondern es ist da.
Manchmal liegen Trauer und Freude ganz dicht beieinander, sodaß wir sie kaum unterscheiden können. Unsere Lesung handelt von der Zeit nach dem Babylonischen Exil. Die große Zeit Jerusalems war vergangen. Das Volk hatte Zerstörung und Verschleppung erlebt. Nach vielen Jahren gibt es die Chance zu einem Neuanfang. Dieser ist schwierig genug. Nun kommt der Priester und Schriftgelehrte Esra und liest dem Volk das Gesetz des Mose vor. Die Zuhörer sind zutiefst bewegt und fangen an zu weinen. Warum? Was haben sie empfunden? Gott hat zu uns gesprochen. Gott hat sich uns geoffenbart. Gott hat sich nicht auf ewig von uns zurückgezogen. Wir sind sein Volk. Wir sind zwar nicht viele und vielen Gefahren ausgesetzt, aber Gott steht auf unserer Seite. Und ja: Wie tief sind wir gefallen. Wir haben als Gottes Volk Gottes Wort in den Wind geschlagen, uns unserer Berufung untreu erwiesen. Das Volk macht die Erfahrung, daß Gott es kennt und versteht und liebt, aber auch, daß es Gottes geheimnisvolles Wort irgendwie begreifen kann. Das Wort betrifft und trifft sie in ihrem Herzen. So stehen sie da und weinen alle zusammen.
Könnte es sein, daß auch wir einmal so weinen, wenn uns im Gottesdienst aus der Hl. Schrift vorgelesen wird? Oder wenn wir die eucharistische Wandlung miterleben? Vielleicht wenn uns einmal in Mark und Knochen bewußt wird, daß wir gemeint sind, jeder einzelne und auch als Gemeinschaft. Hier in der ersten Lesung weint nicht nur ein einzelner, sondern es weinen alle Leute: „Man las aus dem Buch, dem Gesetz Gottes, in Abschnitten vor und gab dazu Erklärungen, so daß die Leute das Vorgelesene verstehen konnten. Der Stadthalter Nehemia, der Priester und Schriftgelehrt Esra und die Leviten, die das Volk unterwiesen, sagten dann zum ganzen Volk: Heute ist ein heiliger Tag zu Ehren des Herrn, eures Gottes. Seid nicht traurig, und weint nicht! Alle Leute weinten nämlich, als sie die Worte des Gesetzes hörten. Dann sagte Esra zu ihnen: Nun geht, haltet ein festliches Mahl, und trinkt süßen Wein! Schickt auch denen etwas, die selbst nichts haben; denn heute ist ein heiliger Tag zu Ehren des Herrn. Macht euch keine Sorgen: denn die Freude am Herrn ist eure Stärke.“ Die Leute gingen nach Hause, „um zu essen und zu trinken und auch anderen davon zu geben und um ein großes Freudenfest zu begehen; denn…“. Was ist der Grund? Der Grund ist: „denn sie hatten die Worte verstanden, die man ihnen verkündigt hatte“. So machten sie die Erfahrung einer echten Freude, nicht nur einer gemachten, künstlichen Freude. Ein wirkliches Fest wird gefeiert.
Liebe Brüder und Schwestern, wenn eine wahrhafte Erneuerung, ein echter Neuaufbruch der Kirche geschieht, dann nicht, weil wir Strukturen reformieren oder uns den Moden der Welt anpassen, sondern nur weil uns Gott diese Gnade schenkt und wir sie annehmen, von seinem Wort im Inneren getroffen zu werden. Dann weinen vielleicht auch wir: Wir sind katholische Christen, Gott hat uns in seiner übergroßen Liebe in seine heilige Kirche berufen. Wir dürfen Ihn kennen, Ihm dienen, bei Ihm sein. Und wie oft haben wir sein Wort in den Wind geschlagen, es vergessen, es nicht mehr verstanden. Aber jetzt hat Er aus Liebe noch einmal unser Herz berührt. Wir verstehen sein Wort und verstehen, daß Er uns kennt und versteht. Und jeder einzelne spürt dabei in seinem Herzen, wie tief er mit all den anderen verbunden ist, die auch von Gott gemeint und geliebt und verstanden und gerufen sind. Der Beginn dieses Kapitels heißt in meiner Bibel: „Das ganze Volk versammelte sich geschlossen auf dem Platz vor dem Wassertor und bat den Schriftgelehrten Esra, das Buch mit den Gesetzen des Mose zu holen…“ Wörtlich steht aber da: „Das ganze Volk kam zusammen כְּאִ֣ישׁ אֶחָ֔ד wie ein Mann…“. Wenn das Volk sich für Gottes Wort öffnet, dann macht es die Erfahrung, daß viele „wie ein Mann“ sein können. Etwas Ähnliches meint Paulus in der zweiten Lesung, wenn er die Kirche mit einem Leib vergleicht, der viele Glieder hat: „Ihr aber seid der Leib Christi, und jeder einzelne ist ein Glied an ihm.“ Eine echte Gemeinschaft: „Wenn ein Glied leidet, leiden alle Glieder mit; wenn ein Glied geehrt wird, freuen sich alle anderen mit ihm.“
Ist so etwas auch heute noch möglich? Wir können es nicht machen, nicht organisieren, nicht planen. Der lebendige Gott selbst muß es schenken. Wir müssen uns bereithalten, uns öffnen, ausstrecken, uns ausräumen, arm werden, unsere Armut anerkennen wie das Volk zur Zeit des Nehemia. Dann ist auch heute eine solche Erfahrung möglich. Amen