30 Jahre Montagsgebete Ansprache (21.10.2019)

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Gern komme ich der Bitte nach, meine Ansprache vom 21. Oktober online zu stellen.

Pfr. Christoph Sperling

 

Vor 10 Jahren, also 20 Jahre nach 1989, haben wir in der Cafeteria des Kardinal-Jaeger-Hauses einen Vortrag von Frau Degenhardt gehört, die die Montagsgebete hier mit ihrer Gitarre begleitet hatte und das heute auch noch einmal tun wird. In diesem Zusammenhang bekam ich auch die Tonaufnahmen von 1989, die ich mir nun nochmal angehört habe. Ein Zeitdokument.  Ich erkenne Stimmen von Menschen, die mir vertraut sind. Aber wir sind alle 30 Jahre älter. Manche sind schon von uns gegangen wie Pfr. Krause, der sich vor 30 Jahren durchgerungen hatte, diese Kirche für die Montagsgebete zu öffnen. Es ist nun Geschichte, was damals geschah. Heute wissen wir, wie sich die Dinge weiterentwickelt haben. Damals war alles ungewiß. Es gab ein relativ kurzes Zeitfenster, das grob gesprochen mit dem Mauerfall zu Ende ging. Der Slogan „Visafrei bis Hawei“ war schon hier in der Kirche ausgesprochen worden und wurde dann nach dem 9.11.89 fleißig in die Tat umgesetzt.

Es war eigentlich nur eine kurze Zeit, es waren nur wenige Wochen, die die eigentliche Wende ausmachten: plötzlich trauten sich sehr viele Menschen in der DDR auf die Straße, obwohl man noch nicht sicher sein konnte, daß die Staatsmacht nicht mit Gewalt und Verhaftungen reagieren würde. Es war die Stunde, wo viele Leute echten Mut bewiesen, das Risiko auf sich nahmen, verhaftet zu werden, wo sie spürten, wirklich etwas bewegen zu können – gemeinsam mit vielen anderen, die vorher keine Stimme hatten. Es war eine ganz besondere Zeit. Es ist schwer, diejenigen, die damals noch nicht geboren oder zu jung waren, die Stimmung und die Atmosphäre nachempfinden zu lassen. Dazu muß man auch das Ohnmachtsgefühl eines DDR-Bürgers kennen, die lähmende Erfahrung der Rechtlosigkeit, die mangelnde Meinungsfreiheit, die Indoktrination durch Schule und Medien, die Verlogenheit des öffentlichen Lebens, die graue Tristesse, die uns damals im öffentlichen Raum umgab, die heute weitegehend vergessene schreckliche Umweltverschmutzung durch die sozialistischen Wirtschaft sowie die allgegenwärtige Bespitzelung durch die Stasi. Daß nun plötzlich so viele sich auf die Straße trauten, daß öffentlich die Wahrheit ausgesprochen und Mißstände angeprangert werden konnten, war ein Erlebnis, das unter die Haut ging. Daß so viele eine große und starke Gemeinschaft bildeten und die Staatsmacht zum Wanken bringen konnten, wird nicht wenigen als eines ihrer größten Erlebnisse in Erinnerung bleiben. Ein Wort, das damals immer wieder gesagt wurde, war: Wir haben keine Angst mehr! Das war der wichtigste Punkt.

Wir sollten das nicht vergessen und auch heute keine Angst haben, die Wahrheit auszusprechen, gegen den Strom zu schwimmen, unsere Rechte und vor allem auch die anderer einzufordern, etwa das Lebensrecht ungeborener Kinder! Denn die menschliche Geschichte funktioniert nicht so, daß das Gute ein für alle Mal siegt. Auch heute bedrohen Lüge, Machtmißbrauch sowie gefährliche Ideologien das Gemeinwohl. Auch heute können gesellschaftliche Systeme kollabieren, weil sie zwar mächtig erscheinen, aber doch auf Sand gebaut sind.

Wir Ostdeutsche haben den Westdeutschen etwas voraus. Wir haben nämlich selber erlebt, wie ein stark geglaubtes System zusammenbrechen kann. Wir haben erlebt, daß die, die heute mächtig sind, morgen vom Thron gestürzt sein können. Wir haben aber auch erlebt, daß Menschen sich für ihre Vergehen und Fehler ehrlich entschuldigt und neu angefangen haben. Jedoch haben wir auch die Erfahrung gemacht, was „Wendehälse“ sind und daß es viele gibt, die sich jeweils zum eigenen Vorteil sehr schnell anzupassen bereit sind.

Wir haben auch erlebt, daß das gelobte Land nicht hinter einer materiellen Grenze liegt. Wer die große Glückseligkeit allein von der D-Mark und vom Westauto erhofft hatte, mußte zwangsläufig enttäuscht werden. Als Christen können wir dazu sagen: Das wirkliche gelobte Land kann uns nur Gott eröffnen, und wir werden es hoffentlich nach unserem Tod einmal erleben, was uns aber nicht davon abhält, jenseits von Utopien, die das Paradies auf Erden versprechen, uns dafür einzusetzen, daß in dieser irdischen Wirklichkeit möglichst viel Gerechtigkeit und Freiheit realisiert werden zum Wohle aller Menschen.

Daß die ganze Sache nicht wie 1953 mit dem brutalen Einschreiten der bereitstehenden Sicherheitskräfte beendet wurde, ist m.E. u.a. drei Faktoren geschuldet. 1.) Der Sozialismus-Kommunismus war ökonomisch gescheitert. Der Marxismus ist eine falsche Theorie, die in der realen Welt nicht funktionieren kann, was leider heute viele immer noch nicht begriffen oder schon wieder vergessen haben. 2.) Die Politik von Michail Gorbatschow konnte die DDR-Machthaber nicht auf sowjetische Unterstützung hoffen lassen. Und 3.) gab es einige wichtige Verantwortungsträger, darunter auch hohe SED-Funktionäre, die im richtigen Moment sich gegen Gewalt entschieden.

Beim Nachhören der Tonaufnahmen von damals beeindruckt mich auch, wie die Pfarrer und einzelne Sprecher großes Verantwortungsbewußtsein zeigten und wie man auch zwischen den angeprangerten Ungerechtigkeiten einerseits und den betreffenden Personen andererseits unterschied. Man wollte keine Rache, keine Gewalt. Man wollte Gerechtigkeit und Frieden. Denen, die damals Mut, Besonnenheit und Friedfertigkeit zeigten, soll auch heute unser Respekt gelten.

Insgesamt ist es eine Art Wunder, daß der für seine Millionen Toten bekannte Kommunismus auf weitgehend friedliche Weise die Macht abgab. Ich sage „weitgehend friedlich“, weil es ja in Rumänien anders war und wir auch die vielen nicht vergessen sollten, die in den vorangehenden Jahrzehnten in sowjetischen Gulags und ähnlichen Einrichtungen gelitten haben oder gar für ihren Freiheitswillen in den Tod gingen. Daß das Ende also weitgehend friedlich verlief, ist für uns Christen ein Grund, Gott Dank zu sagen. Und dies soll auch durch die heutige Andacht geschehen.

Wir Christen waren damals wie heute auch eine Minderheit. Nur ein geringer Anteil der Bevölkerung ging in die Kirche. Dennoch waren viele dankbar, daß vor allem die evangelischen, aber auch die katholischen Kirchen sich öffneten und Raum boten für alle, die sich für positive Veränderungen einsetzen wollten. Aber Politik zu treiben, ist nicht die eigentliche Berufung der Kirche. Würde die Kirche uns nicht mehr daran erinnern, daß der Mensch nicht vom Brot allein lebt, hätte sie ihre Mission verfehlt.

Das beste und freiheitlichste gesellschaftliche System nutzt uns wenig, wenn wir nicht wissen, wofür wir die Freiheit nutzen, und der Verführung eines neuen und raffinierteren Materialismus erliegen. Wenn Ideologien in neuem Gewand, aber mit altem Betrug ihr Comeback feiern. Ein Volk, das die errungene Freiheit nicht nutzt, wird den Tag kommen sehen, an dem es feststellt, daß es die Freiheit wieder schon verloren hat.

Am 23. September 1989 wurde in den katholischen Kirchen ein Hirtenwort, also ein Bischofsbrief, verlesen, der zumindest in meiner Magdeburger Heimatkirche vom Volk mit Standing Ovations bedacht wurde. Darin machte der damalige Bischof Braun u.a. auf die Angst aufmerksam, die uns bedrohte, und nannte sie beim Namen: „Die Angst, ständig bewertet zu werden, danach, wie man politisch diskutiert, welche Meinung man zu tagespolitischen Ereignissen hat, danach, wie man sich ein- und unterordnet und dabei möglichst wenig auffällt, danach, ob man sich dieser oder jener Masseninitiative anschließt, obwohl es andere gute Alternativen gäbe.“  Diese Angst ist damals auf wunderbare Weise verflogen. Und diese Angst darf heute nicht von neuem unser Leben bestimmen!

Brüder und Schwestern, liebe Gäste, lassen Sie uns Gott heute danken für das, was uns vor 30 Jahren auf friedliche Weise zuteil wurde, und für alle, die durch ihren Mut und ihre Besonnenheit zu dieser positiven Wende beigetragen haben. Lassen Sie uns aber auch darum beten, daß wir nach drei Jahrzehnten eben jene Charaktereigenschaften und Haltungen hochhalten oder uns wieder erwerben, die auch heute unbedingt von Nöten sind: den Mut und die Zivilcourage; den Willen, dem eigenen Gewissen unter allen Umständen zu folgen, aber auch, dieses Gewissen zu schulen; die Wahrhaftigkeit; die Friedfertigkeit; die Bereitschaft zum  Kampf gegen falsche Ideen unter Beachtung der Menschenwürde der Gegner; die Bereitschaft, im Engagement für das Gemeinwohl auch persönliche Nachteile in Kauf zu nehmen; die Fähigkeit, Lügen zu durchschauen und zu entlarven, aber auch die, Andersdenkenden respektvoll zuzuhören; das Bewußtsein, daß der materielle Wohlstand allein uns niemals glücklich machen kann, sondern daß es geistiger und geistlicher Grundlagen bedarf, damit ein Volk nicht ins Verderben geführt wird.

Nicht nur der menschliche Leib, sondern auch ein Sozialwesen braucht zum Leben eine Seele. Ansonsten ist sein Ende eingeläutet.

Haben wir deshalb auch heute keine Angst! Fürchtet euch nicht! Amen

 

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